Missverständnisse durch Fehl-Übersetzungen: Eine Analyse von Vers 22:15

Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Gnädigen

Die Übersetzung heiliger Texte wie des Quran erfordert nicht nur sprachliche Genauigkeit, sondern auch ein tiefes Verständnis des Kontexts und der Bedeutungen, die hinter den Worten stehen. Leider führen Fehlübersetzungen oft zu Missverständnissen, die den eigentlichen Sinn eines Verses verändern können. Ein gutes Beispiel dafür ist der Vers 22:15, der in verschiedenen Übersetzungen unterschiedlich wiedergegeben wird und in einigen Fällen Begriffe einführt, die im arabischen Originaltext nicht vorkommen.

Der Originalvers:

من كان يظن أن لن ينصره الله فى الدنيا والءاخرة فليمدد بسبب إلى السماء ثم ليقطع فلينظر هل يذهبن كيده ما يغيظ

Wörtlich übersetzt bedeutet der Vers:

“Wer vermutet, dass Gott ihm im Diesseits und im Letzten nicht helfen würde, dann soll er einen Anlass gen Himmel ausstrecken und ihn dann durchtrennen. So soll er schauen, ob seine List das, was wütend macht, wegschafft.”

Die Fehlübersetzungen:

Lass uns einige gängige Übersetzungen betrachten, die vom Originaltext abweichen und möglicherweise Missverständnisse erzeugen:

  1. Adel Khoury:
    • Übersetzung: “Wer meint, daß Gott ihn im Diesseits und Jenseits niemals unterstützen werde, der strecke doch ein Seil zum Himmel, dann schneide er es ab. So schaue er, ob seine List das entfernt, was (seinen) Groll hervorruft.”
    • Analyse: Hier wird der Begriff “Seil” eingeführt, obwohl das arabische Wort “سَبَب” im Originaltext eher “Anlass” oder “Mittel” bedeutet. Der Vers wird somit bildlich interpretiert, als ob es um ein tatsächliches Seil ginge, das zum Himmel reicht, obwohl der ursprüngliche Text keine solche Konnotation enthält.
  2. Zaidan:
    • Übersetzung: “Wer pflegte zu denken, daß ALLAH ihn (den Gesandten) im Diesseits und im Jenseits nicht unterstützen wird, so soll er ein Seil an der Decke anbringen, dann soll er sich erhängen, dann soll er sehen, ob seine List etwa das vergehen läßt, was er an Zorn hat.”
    • Analyse: Hier wird die Vorstellung von “Erhängen” eingeführt, was eine drastische Interpretation darstellt. “Seil” und “Decke” sind Begriffe, die im arabischen Text nicht vorhanden sind. Die Vorstellung, dass jemand sich erhängt, stammt aus einer weitgehenden Interpretation, die das eigentliche Bild des Verses verfälscht.
  3. Azhar:
    • Übersetzung: “Wer meint, Gott werde Seinem Gesandten im Diesseits und im Jenseits nicht beistehen, der möge ein Seil an die Decke binden, um sich daran zu erhängen. Dann mag er sehen, ob seine Tat ihn von der Wut über den Gesandten befreien wird!”
    • Analyse: Auch hier werden “Seil” und “Decke” eingefügt, und der Gedanke an Selbstmord durch Erhängen wird in den Vers hineingelesen. Diese Interpretation geht weit über den Text hinaus und verändert die eigentliche Botschaft des Verses vollständig.

Das Problem mit diesen Übersetzungen:

Das eigentliche Problem liegt in der Einführung von “Seil”, “Decke” und “Erhängen”, die im arabischen Originaltext nicht vorkommen. Der Begriff “سَبَب” (sabab) im Originaltext bedeutet wörtlich “Anlass”, “Mittel” oder “Grund” und deutet nicht auf ein physisches Seil hin. Das arabische Wort “إِلَى السَّمَاءِ” bedeutet “gen Himmel”, was im islamischen Kontext oft metaphorisch für das Streben nach göttlicher Hilfe oder Verbindung steht.

Die Hinzufügung von Begriffen wie “Seil” und “Decke” kann den Eindruck erwecken, dass es im Vers um eine physische Handlung geht, was den eigentlichen Sinn der metaphorischen Aussage verfälscht.

Der korrekte Kontext:

Im Vers wird ein Zweifler beschrieben, der glaubt, dass Gott ihm im Diesseits und im Jenseits nicht helfen wird. Der Vers fordert diesen Zweifler dazu auf, seine eigene Kraft zu prüfen, indem er sich einen Anlass gen Himmel sucht (als symbolische Verbindung zu Gott) und diese Verbindung durchtrennt. Die Herausforderung lautet, zu überprüfen, ob die eigene List oder Kraft den Zorn oder die Frustration beseitigen kann. Es handelt sich hier um eine metaphorische und ironische Aufforderung, die die Abhängigkeit des Menschen von Gottes Hilfe betont.

Die richtige Übersetzung:

Eine genauere und klarere Übersetzung sollte die metaphorische Bedeutung des Verses bewahren, ohne überflüssige oder interpretationslastige Begriffe wie “Seil” und “Decke” hinzuzufügen. Eine mögliche Übersetzung könnte so lauten:

“Wer vermutet, dass Gott ihm im Diesseits und im Letzten nicht helfen würde, dann soll er einen Anlass gen Himmel ausstrecken und ihn dann durchtrennen. So soll er schauen, ob seine List das, was wütend macht, wegschafft.”

Fazit:

Dieser Vers zeigt, wie Fehlübersetzungen, die metaphorische Ausdrücke wortwörtlich interpretieren, zu Missverständnissen führen können. Begriffe wie “Seil” und “Erhängen” sind im Originaltext nicht vorhanden und sollten in einer genauen Übersetzung vermieden werden. Es ist wichtig, den kontextuellen und metaphorischen Charakter des Verses zu bewahren, um die Botschaft klar zu vermitteln: der Mensch kann ohne Gottes Hilfe weder im Diesseits noch im Jenseits erfolgreich sein.